Fortschritt vs. Historie: Die Straßenbahn in Naumburg
21. Februar 2022 | Lesezeit: ca. 4 Minute(n)Die historische Straßenbahn in Naumburg liefert gute Gründe, warum technischer Fortschritt nicht immer das Maß aller Dinge sein muss. Der Verkehrsmeister des kleinsten ÖPNV-Betriebs Deutschlands stand uns Rede und Antwort.
Wer die Eingangshalle des Naumburger Hauptbahnhofs verlässt, wird sogleich abgeholt – und zwar vom altehrwürdigen Flair einer längst vergangenen Zeit. Das liegt nicht zuletzt an der historischen Naumburger Straßenbahn, deren teilweise über 90 Jahre alten, elektrischen Triebwagen seit 1907 durch das sachsen-anhaltische Mittelzentrum tuckern – wenn auch mit kurzen Unterbrechungen.
In den Traditions-Triebwagen ist übrigens seit 2015 auch das MDV-Ticket gültig. Wer mit einem Fahrschein zum MDV-Tarif am Naumburger Bahnhof angekommen ist, kann also einfach nahtlos weiterfahren.
Allseits beliebtes Vehikel
Sechs Wagen, eine Linie, 30 Minuten Fahrtzeit: Die urige Tram des kleinsten ÖPNV-Betriebs Deutschlands eignet sich hervorragend, um den nach dem Zweiten Weltkrieg gut erhaltenen Stadtkern mit dem Naumburger Dom, einem UNESCO-Welterbe, zu erkunden. Aber nicht nur beim Tourismus, auch bei der einheimischen Bevölkerung ist die Akzeptanz und Freude groß, wie der Verkehrsmeister der historischen Straßenbahn Mike Ewald berichtet:
Täglich nutzen etwa 500 Menschen die Straßenbahn, was etwa ein Drittel der Fahrgastzahlen im Gesamtverkehr ausmacht. Da jedes Gefährt nur aus einem kleinen Wagen besteht, kennt und grüßt man sich – so bringt die Naumburger Straßenbahn nicht nur eine weitere historische Note in die Stadt, sondern auch die Leute zusammen.
Born to be Verkehrsmeister
Dass das auch im Jahr 2022 noch so gut funktioniert, daran ist Verkehrsmeister Mike Ewald entscheidend beteiligt. Nachdem der Straßenbahnbetrieb nach der Wende zwischenzeitig eingestellt wurde, stand der heute 40-Jährige im zarten Alter von 13 Jahren vor dem Straßenbahndepot der Naumburger Tram, um mitzuhelfen, sie wieder in Gang zu setzen. Seine Begeisterung für den ÖPNV und sein unbändiger Einsatzwille kommen dabei nicht von ungefähr: "Nicht nur war mein Opa beim Gleisbau tätig", erzählt der gebürtige Naumburger, "ich bekam auch früh eine Modelleisenbahn geschenkt, was meiner Faszination für Schienenfahrzeuge natürlich entgegenkam. Für mich war schon immer klar, dass ich Lokführer und Straßenbahnfahrer werden wollte – und zwar am besten beides gleichzeitig!"
(Lesetipp: Warum der Modellbau auch heute noch Begeisterung auslöst, erfahren Sie in unserem Artikel zum Bornaer Modellbauverein.)
Nachdem Mike Ewald nach einer Lehre zum Industriemechaniker Straßenbahnfahrer in Jena geworden war und sich damit seinen Berufswunsch erfüllt hatte, kam er bald auch seinem anderen, ganz speziellen Traum aus Jugendtagen näher: Seit 2011 ist er bei der Naumburger Straßenbahn angestellt und seit seiner Umschulung zum Verkehrsmeister 2018 hauptverantwortlich dafür, dass die historische Tram tagtäglich in die Gänge kommt und noch viele weitere Jahre Geschichte schreiben darf.
Das Wort "hauptverantwortlich" kann in dem kleinen Betrieb, der 12 Mitarbeitende umfasst, übrigens durchaus wörtlich genommen werden. Während ein Verkehrsmeister im Großbetrieb vornehmlich auf Bildschirme schaut und koordinierende Aufgaben übernimmt, gestaltet sich der Arbeitsalltag von Mike Ewald etwas facettenreicher: Neben Durchsichten an den Fahrzeugen im Werkstattbereich und entsprechenden Reparaturen übernimmt er klassische Fahrdienste, passt Fahr- und Dienstpläne an, schult Personal und ist bei der konzeptionellen Entwicklung der Fahrstrecke und der Triebwagen beteiligt. Letzteres ist im Fall der Naumburger Straßenbahn übrigens nicht mit Modernisierung gleichzusetzen – im Gegenteil.
Fortschritt vs. Historie
Aber ganz ohne Fortschritt geht es natürlich auch in Naumburg nicht: So soll in Zukunft etwa an der Barrierefreiheit geschraubt und dafür ein historischer Beiwagen mit anlegbarer Rampe hergerichtet werden. Kleinere Modernisierungen wie eine digitale Anzeige an den Haltestellen oder Lautsprecheransagen in der Tram bringen den kleinsten ÖPNV-Betrieb Deutschlands immerhin punktuell auf den Stand der Wissenschaft. Darüber hinaus sei auch das Implementieren einer App im Gespräch: "Solange keine optischen Eingriffe vonnöten sind, wollen wir in Sachen technischer Fortschritt gerne auch Zugeständnisse machen. Uns ist es einfach wichtig, den historischen Aspekt so gut es geht zu bewahren."
Dabei kann man sich das Beharren auf altbewährter Technik in puncto Funktionalität sogar durchaus leisten. So sind die alten Naumburger Trams extrem robust und zuverlässig, haben einen Wirkungsgrad von fast 100 Prozent und verbrauchen im Vergleich zu moderneren Modellen teilweise nur halb so viel Energie. Darüber hinaus fallen bei der historischen Naumburger Straßenbahn so gut wie keine Reparaturen an, die über den üblichen Teileverschleiß hinausgehen. Mit einer durchschnittlichen Reisezeit von 15 Kilometern pro gefahrene Stunde hinkt man im deutschlandweiten Vergleich zwar etwas hinterher, aber das fällt kaum ins Gewicht – zumal auf diese Weise mehr Zeit bleibt, den historischen Stadtkern Naumburgs auf sich wirken zu lassen und mit sympathischen Mitfahrenden ins Gespräch zu kommen.
Anfahrt nach Naumburg
RE 16, RE 18, RE 42 aus Richtung Halle, Merseburg, Weißenfels und Leipzig
RB 20 aus Richtung Leipzig
RB 25 aus Richtung Halle und Merseburg
RB 77 aus Richtung Wangen820 aus Richtung Zeitz
Bildquelle: Christian Hüller
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